Mein brat Jahr

Dez 31, 2024 | Lifestyle | DE

Als die Sängerin Charli XCX im Juli dieses Jahres ihr grellgrünes Album Brat rausbrachte, habe ich mich daran nicht allzu viel aufgehalten, abgesehen von dem absichtlich hässlichen Cover und der komischen Ähnlichkeit mit dem Slowakischen (brat=Bruder). Ich habe Charli dank einiger Songs registriert, aber ich interessierte mich mehr für das Phänomen, das sie in Gang gesetzt hat, erst als es cool war (wie auch sonst). Und gerade ihr „rebellisches, aber empathisches, und gleichzeitig etwas chaotisches Mädchen“ half mir dieses Jahr, eine meiner Ängste zu überwinden, nämlich die, auf Partys zu gehen.

Dieser Artikel wird ein wenig persönlich sein. Jedes Jahr erlebe ich etwas zum ersten Mal, und 2024 ist es mir zum ersten Mal passiert, dass ich auf eine Party ging und sie wirklich auch genoss. Nichts Aufregendes, würde man sagen, wozu sind die Partys denn sonst da? Nun, für mich war das nicht so selbstverständlich.

Seit der Kindheit trug ich das Etikett „introvertiertes Kind“, „Sohn aus gutem Hause“ und vor allem hatte ich die Meinung, „ich werde mich doch nicht betrinken, um aus mir herauszukommen!“ Letzteres war es, was mich lange Zeit von jedem Club, jeder Party oder jeder ein wenig lebendigen Feier fernhielt. Ich fühlte mich einfach unheimlich unwohl, wenn ich nüchtern vor anderen tanzen sollte. Ich konnte mich dann einfach nicht entspannen. Und sich zu betrinken kam nicht in Frage, dafür hatten mich die Nonnen in meiner katholischen Schule zu sehr zurechtgestutzt.

Brat Album Cover

Nicht dass ich ungern tanzen würde, ganz im Gegenteil. Ihr würdet die Shakira hinter verschlossenen Türen sehen! Aber wahrscheinlich haben mich meine verinnerlichte Homophobie und ein paar andere Faktoren davon abgehalten, mich an etwas heranzuwagen, das für viele junge Menschen so natürlich ist.

Rezept für eine gute Party

Als ich meine vier Jahre jüngere Schwester, meine Hofexpertin für das richtige Studentenleben, fragte, was sie so an den ganzen Clubs sah, war ihre Antwort: „Man hat eigentlich nicht immer wirklich Spaß. Es kommt sehr auf die Leute an, auf den DJ und vor allem darauf, dass 2-3 Wodkas als Opener einen richtigen Unterschied machen können.“ Genau das fiel mir später ein, als ich auf einer Networking-Veranstaltung landete, bei der es am Ende eine Party gab. Nachdem das Wissensquiz vorbei war (von dem sich mein innerer Nerd viel mehr freute), sammelten sich die Leute auf der Tanzfläche und ich bekam Panik. Also machte ich mich auf den Weg zur Bar, und genau nach dem Rezept ‚a la Rachel‘ holte ich mir ein paar Shots zur Hilfe. In der Warteschlange kam ich mit ein paar Mädchen ins Gespräch, und auch dieser Kontakt half mir, die Nacht zu überstehen. Und nicht nur das, ich habe tatsächlich sehr schöne Erinnerungen an diesen Abend.

Wenn ich im Nachhinein darüber nachdenke, wie sich diese Party von meinen früheren krampfhaften Versuchen, mein Disco-Selbst zu erwecken, unterschied, muss ich meiner Schwester Rachel Recht geben. Die Leute machten viel aus – wir haben vor der Party viel geredet, kamen sehr gut zurecht und ich fühlte mich akzeptiert. Und da es vor allem Mädchen waren, musste der DJ die Musikauswahl darauf abstimmen. Ich merkte, dass ich mich zu Lady Gaga und Rihanna viel besser bewegen konnte als zu Elektro- oder Trance, mit denen ich daheim in Österreich schon Erfahrung hatte. White girl pop regelt einfach.

Was hat Charli damit zu tun?

Das ist nicht die einzige Party, auf der ich dieses Jahr war und die viel Spaß gemacht hat. Ich schätze, es ist wohl wie bei der ersten Liebe, dem ersten Sex oder dem Autofahren – wenn man es das nächste Mal versucht, ist das Selbstvertrauen ein bisschen größer als beim ersten Mal. Ihren Anteil an meinem Wandel hat bestimmt auch die Autorin des Albums Brat, die diesen Sommer gefühlt überall in meiner Blase war.

Brat Party, auf der ich Maciek kennenlernte

Brat bedeutet im Englischen „Gör“, und meinen Recherchen im Internet zufolge wollte Charli, anstatt ein anständiges Mädchen zu sein, ihrem unvollkommenen, etwas chaotischen Ich, das das Leben in vollen Zügen genießt, Raum geben. Ich mache mir nicht vor, dass ich mir diese Einstellung zu eigen gemacht habe, ganz im Gegenteil. „Du kannst nicht so nett sein“, schrie Maciek mich an, als ich höflich der zehnten Person auswich, die sich im Club um mich drängte. Durch meinen Kopf schoss ein Bild eines steifen Jungen, der alle seine Hausaufgaben gemacht hat, und ich sagte mir, dass ich wohl nie brat sein werde. Ähnlich kam mein polnischer Freund zu dem Schluss, dass wir wahrscheinlich nicht „brat enough“ waren, als die Songs auf der CharliXCX- und Kesha-Themenparty irgendwie untergingen und es schwer war, mit anderen zu viben.

Wie brat ich bin

Bei einigen Definitionen von brat summer hatte ich wirklich Spaß. Laut Vogue Czechia ist die Zeit für eine wilde Frau gekommen, die keine Angst vor Partys hat, aber auch nicht vor deren Folgen. „Das erinnert mich an die Bravo-Girl-Sommerausgaben von vor 15 Jahren“, lautete ein Kommentar unter dem Beitrag, der diese grüne Ära erklärte. Und auch wenn ich es mir sehr wünschte, so wie das Beste von den positivsten Botschaften von brat summer zu sein (oder Hot Girl Summer, oder irgendeinem Sommer von vor 15 Jahren), kann ich mich höchstens mit dem chaotischen und freimütigen Mädchen identifizieren, das gelegentlich einen dummen Spruch ablässt. Aber so war ich schon immer, egal was die Sommertrends sagen. Mich auch so zu akzeptieren, das ist schon eine andere Sache, für die ich wahrscheinlich länger brauchen werde.

Wo ich mich aber schon gefunden habe, war in der Definition der Slowakischen Zeitung SME, nach der ein brat summer ist, „wenn du um 4:30 Uhr morgens mit dem Taxi vom Club nach Hause fährst, es draußen hell wird und du dich zum Schlafen mit deiner Wimperntusche hinlegst.“ In dieser Situation habe ich mich dieses Jahr auf jeden Fall schon ein paar Mal befunden, abgesehen von der Sache mit der Wimperntusche bis jetzt. Es war aber schon höchste Zeit, denn mit siebzehn hatte ich einfach andere Prioritäten.

Bei mir handelte sich jedoch dieses Jahr um bewusstes Verdrängen meiner anderen unangenehmen Gefühle, worauf ich nicht besonders stolz bin. Auch deshalb gehe ich in das Jahr 2025 mit einer eher „clean girl“ Ästhetik an, die Charli so gehated hat. Trotzdem bin ich für diesen ganzen grünen Wahnsinn dankbar. Nicht nur wegen der Knaller aus diesem Album, die mich auf meinen Sommerwanderungen begleitet haben. Auch würde ich nicht sagen, dass ich jetzt gerne auf Partys gehe. Aber ich möchte glauben, dass ich selbst durch diesen Schritt aus meiner Komfortzone einen Schritt näher dran bin, die rohe Version von mir selbst zu umarmen, wie das die Mutter Charli vorschlug.

Filip

Student, Sprachennerd, Expat

Ich helfe Lernenden und Tutoren das Beste aus ihrem Einzelunterricht rauszuholen.